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Die Sexualmoral der Frauen aus der Arbeiterklasse: Aus weiblicher Sicht (um 1891)

Minna Wettstein-Adelt (geb. 1869) ließ sich durch Paul Göhres Erfahrungen inspirieren, die in Dreieinhalb Monate Fabrikarbeiter ausführlich erzählt wurden und im vorangegangenen Dokument in diesem Kapitel auszugsweise wiedergegeben sind. Sie entschloss sich fast unmittelbar, sein Experiment nachzustellen, aber mit mehr Augenmerk für die Situation der Arbeiterinnen. Zuerst versuchte sie, in die Buchhaltungsabteilung einer Rüstungsfirma in Spandau bei Berlin einzutreten, und bat sogar den preußischen Kriegsminister schriftlich um eine Genehmigung, doch ihre Bitte wurde abgelehnt. Daraufhin arbeitete sie insgesamt dreieinhalb Monate in vier verschiedenen Fabriken in Chemnitz (einer großen Industriestadt im Königreich Sachsen) sowie einen Monat auf dem umliegenden Land. Im Gegensatz zu Göhre beobachtet Wettstein, dass verheiratete Männer und Frauen aus der Arbeiterklasse einander gewöhnlich treu blieben. Einige Frauen lebten außerehelich mit Männern zusammen und brachten sogar deren Kinder zur Welt, doch häufig heirateten diese Paare später. Wettstein stellt fest, dass alle Fabrikarbeiterinnen die Prostitution als moralisches Versagen ablehnten und mit bekannten Prostituierten nicht verkehrten. Zudem pflegten sie auch keinen Umgang mit sozial höher gestellten Männern, weil sie wussten, dass eine Heirat zwischen ungleichen Partnern nicht in Frage kam.

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Ich habe in Bezug auf die Sittlichkeit in vielen Punkten gerade das Gegenteil von dem gefunden, was Göhre fand. Ich halte hauptsächlich seine Behauptung von der freien Liebe der Männer, der notwendigen Treue aber der Frauen, für unrichtig. Gerade die Sittenzustände habe ich auf das eingehendste studiert, weil sie mir das wichtigste Kapitel erschienen.

Wenn von Treue der Frauen und Liebesfreiheit der Männer gesprochen wird, so ist damit selbstverständlich das verheiratete Contingent gemeint; fast überall – und ich habe genaue Informationen angestellt – bleiben sich Mann und Frau beide in der Ehe treu oder ein jedes geht seiner Wege. Daß es natürlich auch Ausnahmen giebt, will ich nicht bestreiten, aber diese sind thatsächlich so selten, daß sie kaum der Erwähnung bedürfen.

Die Frauen bringen häufig ein uneheliches Kind mit in die Ehe, oft auch zwei; fast immer aber sind es Kinder desjenigen, den sie heiraten. Die Mädchen erzählen in der Fabrik ganz harmlos von ihrem Kinde, wenn es ein Zähnchen bekommen hat oder krank ist; teilnehmend hören die anderen zu, es fiele keiner ein, darin eine Unsittlichkeit zu sehen. Man verkehrt zwar nicht mehr gern mit jenen männerlosen Müttern, aber lediglich deswegen, weil die Mütter unehelicher Kinder, und seien sie noch so jung, ernster, weniger vergnügungs- und putzsüchtig sind und einen Hang zum solideren Leben zeigen. Sonntags gehen sie vielfach mit dem nett geputzten Kinde und dem Schatze spazieren, stolz sieht ihnen von der Hausthür aus die Mutter nach.

Die Arbeiterinnen leben vielfach im Concubinat mit Arbeitern; so war die eine in unserm Saal drei Jahre mit einem Webermeister in Dresden, ein Jahr mit einem Heizer in Zwickau und zur Zeit ein halbes Jahr mit einem Spinner in Chemnitz vereint; Kinder waren jedoch nicht vorhanden.

Ebenso frei und derb, wie die Arbeiterinnen in der Liebe sind, zeigen sie tiefe und ernste Empörung für jede gewerbsmäßig betriebene Unzucht, und ganz speziell für solche Mädchen, die sich an „feine Herren" vergeben. Der Schatz schenkt ihnen Garderobe, Schmuck, Wäsche, bezahlen aber lassen sie sich ihre Liebe nicht, es muß bei freiwilligen Geschenken bleiben.

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