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Ottilie Baader, Näherin und Heimarbeiterin (1870er Jahre)

In nahezu jedem Bereich der deutschen Wirtschaft stieg die Anzahl der weiblichen Arbeitskräfte im späten 19. Jahrhundert. In der Textil- und Bekleidungsindustrie wurde ein Großteil der Arbeit außerhalb der Fabrikmauern erledigt, und die meisten dieser Heimarbeiter waren Frauen. Im Gegensatz zu früheren Epochen war die Heimarbeit nicht nur in den ländlichen Gebieten beheimatet, sondern auch in den großen Städten. In diesem Dokument erzählt Ottilie Baader (1847-1925) ausführlich von ihrem Leben als Näherin. Diese Beschreibung ist den Eingangskapiteln ihrer 1921 veröffentlichten Autobiografie entnommen. Baader war die Tochter von Zuckerraffineriearbeitern, und ihr Bericht sollte andere Frauen aus der Arbeiterklasse inspirieren. Während der überwiegende Teil der Autobiografie sich auf Baaders führende Rolle in der sozialdemokratischen Frauenbewegung konzentriert (in der sie sich für das Frauenwahlrecht einsetzte), schildert diese Textpassage die abstumpfende Wirkung der endlosen Stunden, die sie in den 1870er Jahren an einer Nähmaschine verbrachte. Baader erklärt auch, wie schwer es in jenen Jahren war, die in solchen Fabriken arbeitenden Frauen zu organisieren.

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Die Nähmaschinenindustrie hat sich in Deutschland erst in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts so entwickelt, daß die Nähmaschine auch hier zu allgemeinerer Verwendung kam. Das rief vor allem in der Frauenerwerbsarbeit, und namentlich in der Wäscheherstellung, eine große Umwälzung hervor. Als besondere Branche entstand die Herstellung von Kragen und Manschetten, die vorher feste Bestandteile des Herrenoberhemdes gewesen waren. In Berlin waren es damals vier oder fünf Firmen, die ihre Herstellung im großen betrieben.

Ich hatte inzwischen, wie schon gesagt, allerlei versucht. Jetzt aber lernte ich auf der Maschine nähen und kam in eine dieser Fabriken in der Spandauer Straße. Dort wurden etwa fünfzig Maschinennäherinnen und ebensoviele Vorrichterinnen beschäftigt. Je eine Arbeiterin dieser beiden Gruppen mußten sich immer zusammentun und gemeinsam arbeiten, und auch der Lohn wurde gemeinsam berechnet.

Von morgens acht bis abends sieben Uhr dauerte die Arbeitszeit, ohne namhafte Pause. Mittags verzehrte man das mitgebrachte Brot oder lief zum „Budiker” nebenan, um für einige Groschen etwas Warmes zu sich zu nehmen. Sieben, höchstens zehn Taler die Woche war der von Vorrichterin und Maschinennäherin gemeinsam verdiente Lohn. Da das Maschinennähen körperlich anstrengender als das Vorrichten war, so bestand die Gepflogenheit, daß die Maschinennäherin vom Taler 17½ und die Vorrichterin 12½ Groschen erhielt. Vor der Teilung wurden aber von dem gemeinsam verdienten Lohn die Kosten für das vernähte Garn und etwa zerbrochene Maschinennadeln abgezogen, was durchschnittlich auf den Taler 2½ Groschen betrug.

Den ersten Anstoß, eine Änderung dieser ganzen Verhältnisse selbst in die Hand zu nehmen, brachte uns erst der Deutsch-Französische Krieg. Unmittelbar nach seinem Ausbruch gab es auch in der Wäscheindustrie einen Stillstand des Absatzes. Arbeiterinnen wurden entlassen und standen mittellos da, denn von dem Verdienst konnte niemand etwas erübrigen. Unsere Firma wollte das „Risiko” auf sich nehmen, uns auch bei dem eingeschränkten Absatz voll zu beschäftigen, wenn wir für den „halben” Lohn arbeiten wollten. Von Organisation hatten wir keine Ahnung – und wir waren in einer Notlage, denn die meisten Arbeiterinnen waren auf sich selbst angewiesen; sie lebten, wie man sagt, von der Hand in den Mund. So sagten wir zu, es einmal eine Woche zu versuchen.

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