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Der Direktor des Zentralinstituts für Jugendforschung äußert sich zur zunehmenden Entfremdung der Jugendlichen von der DDR (21. November 1988)

Der Direktor des Zentralinstituts für Jugendforschung, Walter Friedrich, entwarf eine Denkschrift für Egon Krenz, den Vorsitzenden der staatlichen Jugendorganisation FDJ, in der er den allmählichen Entfremdungsprozess der ostdeutschen Jugendlichen vom Staat nachzeichnet und konstruktive Gegenmaßnahmen, wie das Zugeständnis größerer Freiheiten, fordert.

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Einige Reflexionen über geistig-kulturelle Prozesse in der DDR


1. Vorbemerkungen

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Ich glaube, daß wir am Beginn einer kulturellen Umbruchsphase (vielleicht einer „geistig-kulturellen Umgestaltung“, „Kulturrevolution“) stehen, die weite Teile der Welt erfaßt. Vieles spricht dafür, daß die SU, ausgehend vom Perestroika-Kurs der KPdSU, zu einem wesentlichen, vielleicht sogar entscheidenden Faktor dieser globalen kulturellen Reformation wird (Neues Denken, Aufbruchsstimmung, Durchsetzung humanistischer Ideale, russisches Kulturerbe etc.).

Jedenfalls leben wir in einer gesellschaftlichen Umbruchsphase, die gerade auch im Bereich des kulturell-geistigen Lebens von großer Intensität und Tiefe geprägt ist.

Das wird auch bei uns zu einer Umwertung zentraler gesellschaftlicher Werte und Zielfunktionen führen, vor allem zu einer Neubewertung unserer Gesellschaft als eines „dynamischen Systems“. Wir werden unsere sozialistische Gesellschaft viel stärker (und nicht bloß theoretisch-deklarativ) in ihrer tiefreichenden strukturellen Veränderung, Entwicklung, in ihren objektiven Erfordernissen und Zwängen zur Neuanpassung an die veränderte Wirklichkeit bewerten müssen. Nur so können wir die auf verschiedenen Gebieten dringend notwendige Erhöhung ihrer sozialen Effektivität - und unser Überleben sichern.


2. Über einige Hintergründe der Unterschätzung geistig-kultureller Prozesse in unserem Lande

Ich habe den Eindruck, daß wir Umfang und Tiefgang der sich gegenwärtig vollziehenden Prozesse im Denken, Fühlen und Verhalten der Menschen, der Jugend wie der gesamten Bevölkerung, politisch nicht klar genug zur Kenntnis nehmen, nicht ernsthaft genug bewerten. Offensichtlich wird die große Bedeutung dieses Mentalitätswandels, dieses Wandels von Grundhaltungen der Persönlichkeit (dieses Charakterwandels) weithin unterschätzt.

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