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Europa als Wertegemeinschaft (28. Dezember 2005)

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Der Begriff „europäische Werte“ wirft ein Problem auf. Er betrifft Europa und seine Grenzen. Die Frage nach den Grenzen Europas kann man positivistisch oder politisch beantworten. Die positivistische Antwort ist die geographische, die Europa zwischen dem Atlantik und dem Ural verortet. Die politische Antwort rückt die politische Kultur, die Summe der geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze, die auf die politische Willensbildung Einfluß haben, in den Mittelpunkt. Das geographische Europa verfügt über keine gemeinsame politische Kultur. Wenn wir mit Blick auf die europäische Einigung dennoch von einer gemeinsamen politischen Kultur sprechen, dann meinen wir die politische Kultur des Westens.

Die begriffliche Unterscheidung zwischen „Europa“ und „dem Westen“ ist wichtig. Um den Wiener Historiker Gerald Stourzh zu zitieren: „Europa ist nicht (allein) der Westen. Der Westen geht über Europa hinaus. Aber Europa geht auch über den Westen hinaus.“

Zum Westen gehören unstrittig die großen, angelsächsisch geprägten Demokratien Nordamerikas, Australiens und Neuseelands. Große Teile Europas gehören nicht dazu. Der Westen: Das war ursprünglich jener Teil der Christenheit, der bis zur Reformation sein geistliches Zentrum in Rom hatte. Wenn wir im Europa der EU von „europäischer Identität“ sprechen, meinen wir, ob wir uns dessen bewußt sind oder nicht, die Identität des europäischen Okzidents.

Diese Identität ist sinnlich erfaßbar. Man denke nur an die großen Epochen der Geschichte der sakralen und weltlichen Architektur, der bildenden Kunst und der Musik. Die Europäer haben kulturell so viel miteinander gemeinsam, daß es ein sinnloses Unterfangen wäre, rein nationale Kunstgeschichten zu schreiben. Aber die Gemeinsamkeiten beschränken sich nicht auf die Kunst. Es gibt gemeinsame Rechtstraditionen, vom Kirchenrecht über die Rezeption des römischen Rechts bis zum Jus Publicum Europaeum nach dem Westfälischen Frieden von 1648. Es gibt die gemeinsamen Erfahrungen von Emanzipationsprozessen: vom Humanismus und der Reformation über die Aufklärung bis zur Herausbildung von Rechtsstaat und Demokratie. Schließlich gibt es die integrierende Kraft der Erinnerung an die mörderischen Folgen des Hasses auf Fremde und Minderheiten, von Nationalismus und Rassismus - mit dem Holocaust als extremster Steigerung.

Ein aufgeklärtes europäisches „Wir-Gefühl“ kann nur auf beidem beruhen: dem Bewußtsein dessen, was Europa seit mehr als einem Jahrtausend im Guten wie im Bösen verbunden hat, und der Erinnerung an das, was die Europäer über Jahrhunderte hinweg trennte. Rund 40 Jahre nach dem Untergang des „Dritten Reiches“ wurde in der „alten“ Bundesrepublik Deutschland der „Historikerstreit“ über die Einzigartigkeit des nationalsozialistischen Judenmordes ausgefochten. In diesem Zusammenhang sprach Jürgen Habermas 1986 sein vielzitiertes Verdikt aus: „Die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens ist die große intellektuelle Leistung unserer Nachkriegszeit, auf die gerade meine Generation stolz sein könnte.“ Vorbehaltlose Öffnung gegenüber der politischen Kultur des Westens: In dieser Formel steckt auch eine Antwort auf die Frage nach den politischen Grenzen Europas und damit nach den Grenzen der Erweiterbarkeit der Europäischen Union. Als politische Wertegemeinschaft kann die EU nur Nationen umfassen, die sich der politischen Kultur des Westens vorbehaltlos geöffnet haben. Nationen, die sich diese Kultur nicht aneignen wollen, erteilen damit der EU als Wertegemeinschaft eine Absage und können ihr nicht beitreten.

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